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Kultursensibilität

„Unterschiede gilt es nicht bloß auszuhalten;

erst durch sie entstehen die Gegensätze,

zwischen denen unsere Kreativität dialektische Funken schlägt“ ​

Audre Lorde

Berlin und besonders Neukölln sind Orte vielfältiger identitätsbezogener Merkmale. Dieser Pluralismus bietet Begegnung, Bereicherung, Wachstum, Möglichkeiten und Herausforderungen.

Fragen der Identität spielen in Psychotherapie und Beratung häufig eine wichtige Rolle, an diesem Standort und zu dieser Zeit wohl besonders. Identitätsmerkmale können tiefgreifenden Einfluss darauf nehmen, wie wir uns und andere wahrnehmen, wie wir in der Welt gesehen und behandelt werden. Ich bemühe mich daher, die oftmals komplexen Einflüsse solcher Merkmale in die gemeinsame Arbeit einzubeziehen, um das individuelle Erleben verstehen und validieren zu können. 

Warum mache ich den Aspekt der Kultur explizit?

1. BIPoC, ethnische Minderheiten, Expats oder Menschen mit Migrationshintergrund nehmen Psychotherapie und Beratung signifikant seltener in Anspruch als Menschen der hiesigen kulturellen Mehrheitsgesellschaft.

Dies liegt u.a. daran, dass die Möglichkeiten des Gesundheitssystems nicht ausreichend bekannt sind, zu wenige kulturspezifische Angebote vorhanden sind oder die Betroffenen Diskriminierung fürchten, die auch im Gesundheitssystem vorkommen.

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2. Damit Patient/Klient*innen, wissen, dass ich ihre Erfahrung ernst zu nehmen beabsichtige.

Es kommt z.B. vor, dass BIPoC, ethnische Minderheiten, Expats oder Menschen mit Migrationshintergrund Hemmungen spüren, in Kontakt mit einem weißen und/oder deutschen Therapeuten zu treten. Sie fragen sich, ob sie sicher vor Diskriminierung sein können, ob ihre Lebenserfahrungen bekannt sind, ernst genommen und verstanden werden. Ob sie offen über Diskriminierung, Rassismus und Benachteiligung sprechen dürfen. Ob sie ihre Wahrnehmung offen artikulieren können, ohne Anstoß zu erregen oder bestraft zu werden.   Ob die unterschiedlichen Identitätsaspekte und Privilegien die Beziehung erschweren könnten.

Ich kann negative Erfahrungen mit mir natürlich nicht ausschließen. Ich habe Ihre Lebenserfahrungen nicht gemacht, kenne Ihre Lebensverhältnisse nicht so gut wie Sie, meine Kenntnisse von Kulturen sind begrenzt, ich habe blinde Flecken und mache Fehler. Meine Absichten sind jedoch, Sie ernstzunehmen, mir Fachwissen anzueignen, mich weiterzuentwickeln und ggf. zu entschuldigen, wenn ich mich unsensibel verhalten habe. Es ist mir wichtig, dass Sie Ihr Erleben offen besprechen können. Ich schätze kulturelle Vielfalt und möchte Sie unterstützen, sich mit Ihrem Identitätserleben sicher, selbstbewusst und wohl zu fühlen.

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3. Um klar zu benennen, dass (inter-/trans)kulturelle Faktoren bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und im Zusammenspiel mit psychischen Beschwerden eine wichtige Rolle spielen können.

Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung und Marginalisierung sind keine Fiktionen, sondern strukturelle, institutionelle und interpersonelle Realitäten. Diese können persönlich unterschiedlich interpretiert und verarbeitet werden, doch es sind keine Wahrnehmungsstörungen oder Realitätsverzerrungen. Ich halte es für eine ethische und berufspolitische Pflicht, das offen anzusprechen. 

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4. Da auch die Psychotherapie kulturblind sein kann.

So wurden z.B. die meisten Modelle ausgehend von und in Hinblick auf einen weißen, westlich geprägten Mittelstand entwickelt. Vorstellungen anderer Kulturen (z.B. bzgl. Werten und angemessenem Verhalten) können jedoch stark davon abweichen. Diagnostische Methoden bieten nur selten kulturspezifische Vergleichsstichproben, was eine Interpretation von Testergebnissen erschweren kann. Es gibt Verständigungsschwierigkeiten, nicht allein auf der sprachlichen, sondern auch auf der Ebene verschiedener Bedeutungen (z.B. Metaphern, „Organchiffren“). Auch fehlendes Wissen und Vorurteile können schwerwiegende Folgen haben. Es kann daher in der Behandlung zu Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen kommen, wenn kulturelle Aspekte nicht angemessen berücksichtigt werden. 

Wie stelle ich mir kultursensible Therapie vor?

1. Wie Sie mit dem Kulturaspekt umgehen wollen, wird immer Ihnen überlassen bleiben.

Dies ist eine persönliche Entscheidung, die dem therapeutischen Güteaspekt der Autonomie der Patient/Klient*innen unterliegt. Mein Beitrag kann nur sein, verschiedene Perspektiven und ihre Konsequenzen aufzuzeigen. Als vor dem kulturellen Aspekt privilegierte (weiße, deutsche) Person steht es mir nicht zu, eine bestimmte Haltung von Ihnen zu erwarten. Als Psychotherapeut, Coach oder Supervisor ist mir Ihr Wohlergehen anvertraut und einzig die Frage, welcher Umgang mit dem kulturellen Aspekt Ihnen gut tut, ist für mich von Relevanz.

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2. Müssen wir diese Aspekte betonen?

Nein, selbstverständlich nicht. Meine Absicht ist es nicht, diesen Aspekt zu forcieren, sondern für ihn bereit zu sein, wenn Sie ihn thematisieren möchten oder er relevant erscheint. Ein kategorisierendes oder trennendes Denken in "Ich vs. Andere" (Ingroup vs. Outgroup) kann zu Gefühlen von Isolation, Entfremdung, mangelnder Verbindung oder Zugehörigkeit führen. Manche Personen erleben durch eine Akzentuierung von Themen wie Diskriminierung und Rassismus eine Sensibilisierung, die ihren Leidensdruck noch vergrößern kann. Manche Personen halten den kulturellen Aspekt auch nicht für persönlich relevant und das halte ich für genauso legitim.

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3. Wie ist meine professionelle Perspektive auf kulturelle Aspekte?

Kulturelle Identität entsteht immer in Bezug auf bestimmte markierte Gruppen, die als gleich oder ungleich in Hinblick auf bestimmte Merkmale beurteilt werden. Sie entsteht damit durch Differenzierung von (vermeintlichen) Gemeinsamkeiten und Unterschieden mit (Gruppen von) anderen. Die dabei herangezogenen Vergleichsmerkmale sind prinzipiell willkürlich, aber historisch bedingt bedeutungsvoll. Eine Person kann z.B. in Deutschland als Person of Color, in Afrika oder Südamerika jedoch als weiß oder light-skinned wahrgenommen werden und dadurch ganz unterschiedliche Erfahrungen von Privilegien machen. Ich betrachte kulturelle Identitätsaspekte als durch soziale Erfahrungen geformte kognitive Kategorien, die im interaktionellen und gesellschaftlichen Geschehen relevant gemacht werden können. Bestimmte Aspekte (z.B. die Hautfarbe, die Nationalität, die Sprache) können dabei ähnliche Erfahrungen und Privilegien mit sich bringen, z.B. in Hinblick auf Macht und Ressourcen.

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Eine wichtige gegenwärtige Theorie in der Analyse kultureller Aspekte ist die Intersektionalität. Diese untersucht und beschreibt die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Identitätsmerkmalen und deren Folgen (z.B. in Hinblick auf Privilegien und Diskriminierung) für das Individuum. So können Individuen z.B. hinsichtlich mancher Merkmale (z.B. Cis- und Heterosexualität) privilegiert und hinsichtlich anderer Aspekte (Nationalität, Hautfarbe) benachteiligt sein. Zudem können Träger*innen ein und desselben Merkmals (z.B. homosexuell) aufgrund von verschiedenartigen anderen Merkmalen sehr unterschiedliche Erfahrungen machen (z.B. aus säkular geprägter Oberschicht vs. aus traditioneller religiös geprägter Arbeiterklasse stammend). Eine andere wichtige Theorie, die meine Arbeit beeinflusst, ist der Poststrukturalismus. Dieser besagt, dass Wissen nicht objektiv sein kann, sondern von Diskursen, Machtverhältnissen und sozialen Konventionen beeinflusst wird. Der Poststrukturalismus betont die schier unendliche Vielfalt von Interpretationen und Perspektiven.

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